„Man muss heute eine ordentliche Vorstellung davon haben, was man will“
Im Langzeitprojekt „Jugend in Brandenburg“ begleiten die MAZ-Volontäre sieben junge Menschen aus dem ganzen Land. Nach einem Jahr hat die MAZ die Protagonisten nach Potsdam eingeladen und zum ersten Mal an einen Tisch gebracht. Gemeinsam sprachen die Jugendlichen über Schüler-Demos, ökologische Landwirtschaft und ihre persönliche Zukunft in Brandenburg. Mit dabei waren: Jean Nikisch (19), Friederike Kupka (17), Stanley Moewes (19), Florian Knaut (20) und Ireen Beyer (18).
Kommunalwahlen, Europawahlen und Landtagswahlen – 2019 gilt als „Superwahljahr“ in Brandenburg. Hand aufs Herz: Wer von euch würde sich als politisch interessiert bezeichnen?
Ireen: Ich bin stark politisch interessiert. Einfach, weil Politik wichtig ist und uns alle etwas angeht. Mein Freundeskreis ist auch so drauf.
Stanley: Es kommt auf den Bereich an. 70 Prozent meiner Energie stecke ich in Feuerwehr oder in irgendetwas, was mit Feuerwehr zu tun hat. Deswegen gucke ich natürlich, welche Partei etwas für Ehrenamtler und Hilfsorganisationen wie die Feuerwehr macht. Generell achte ich aber darauf, dass sich die Partei an das hält, was sie versprochen hat. So eine Partei würde meine Stimme bekommen.
Friederike: Prinzipiell bin ich politisch nicht abgeneigt, aber ich engagiere mich nicht in einer Partei oder so.
Welche politischen Themen sind euch in euren Regionen wichtig?
Jean: Bei uns in der Prignitz hakt es beim Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln. Als ich noch keinen Führerschein hatte, habe ich drei Stunden bis zur Fahrschule gebraucht. Auch Freizeitbeschäftigungen fehlen bei uns, zum Beispiel Jugendclubs.
Florian: Da ich nur vorübergehend in Brandenburg bin, hat mich die Kommunalwahl nicht wirklich interessiert. Das wäre ein anderer Fall, wenn ich noch in meiner Heimat in Sachsen-Anhalt wäre. Da wären es dieselben Themen, also öffentliche Verkehrsmittel und Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche. Aber in Treuenbrietzen gibt’s das eigentlich alles.
Friederike: In der Schule bekomme ich mit, dass manche Schüler aus anderen Landkreisen stundenlang fahren müssen. Ich persönlich bin davon nicht betroffen, deswegen kann ich das nicht so richtig einschätzen.
Ireen: Klimaschutz ist mir wichtig. Klimapolitik kann man auch vor Ort gestalten, zum Beispiel, indem man auf erneuerbare Energien setzt und auf Nachhaltigkeit achtet, zum Beispiel bei Papierverschwendung. Es ist krass, was alles weggeschmissen wird. Nachhaltige Landwirtschaft ist auch wichtig. Und soziale Gerechtigkeit, dass man Rücksicht aufeinander nimmt.
Diskussion über Fridays For Future
Der Jugend wurde lange vorgeworfen, unpolitisch zu sein. Dann kam die Protestbewegung Fridays for Future, die seit Monaten politisch und medial hohe Wellen schlägt. Ein großer Teil der Debatte kreiste um Schulstreiks. Findet ihr es okay, für das Klima die Schule zu schwänzen?
Florian: Natürlich ist das okay. Manche Politiker haben gesagt, die Schüler sollen das nicht während der Schulzeit machen, sondern in ihrer Freizeit. Dabei definiert sich ein Streik doch dadurch, dass er in die Arbeitszeit fällt. Klimaschutz ist ein riesiges Thema, es muss wirklich etwas geändert werden. Ich stehe voll dahinter.
Ireen: Ich habe für Fridays for Future nie Schule geschwänzt, weil ich eine Freistellung hatte. Ich wäre nicht jeden Freitag nach Berlin oder woanders hingefahren und hätte dafür Unterricht verpasst. Aber wenn man Zeit dafür hat, finde ich das legitim.
Stanley: Ich würde sagen, ja. Schüler dürfen immer auf Messen gehen, das wird einfach abgenickt. Dann kann man auch auf eine Demo gehen. Politische Bildung first! Als Lehrer würde ich die Klasse sogar dazu animieren, hinzugehen.
Jean: Zu uns ist das gar nicht so durchgeschwappt, aber ich würde es auch so machen. Die Medien haben Fridays for Future ziemlich hochgespielt. Damit haben die Schüler erreicht, was sie wollten: Aufmerksamkeit.
Friederike: Ja, aber für das falsche Thema, finde ich. Es ging dann direkt ums Schwänzen und weniger um die Gründe der Schüler. Das ist blöd.
Ireen: Klar, es ging viel ums Schulschwänzen. Aber im Internet gab es auch viele gute Artikel, die den Klimawandel an sich diskutieren und nicht das Drumherum.
Friederike: Für mich ist es generell keine Option, Schule zu schwänzen. Ich gehe auch nicht auf Demonstrationen. Aber Umweltschutz ist mir sehr wichtig.
„Klimaschutz ist ein riesiges Thema, es muss sich wirklich etwas ändern“
– Florian Knaut (20)
Wenn die Jugendlichen Bundeskanzler wären, dann…
Stellt euch vor, ihr wärt Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin. Was würdet ihr in Deutschland ändern?
Stanley: Das Schulsystem. Man muss gucken, dass ein Pädagoge auch wirklich ein guter Pädagoge ist. Außerdem ist das Schulsystem total veraltet und passt sich den heutigen Gegebenheiten nicht an. Selbstständiges Arbeiten wäre mir zum Beispiel total wichtig, auch im Hinblick auf das Studium oder so. Die Schule muss besser auf das Leben vorbereiten. Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie eine Steuererklärung geht.
Florian: Es gibt nicht viele Dinge, die ich den USA abgewinnen kann, aber eine Sache finde ich total gut: Alkohol ab 21 Jahren. Deutschland ist das Land der Biertrinker, schön und gut. Aber ich komme aus einem Beruf, bei dem ich sehr viel mit psychisch kranken Menschen zu tun habe (Krankenpfleger, Anm. d. Red.). 80 Prozent der Patienten bei mir in der Klinik sind Alkoholiker. Die haben mit 13 oder 14 Jahren das erste Mal eine Bierflasche in der Hand gehabt und haben mit Ende 30 dann nicht mehr aufhören können. Man kommt in Deutschland meiner Meinung nach viel zu leicht an Alkohol. Ich würde die Altersgrenze für Alkohol drastisch nach oben anheben. Oder die Steuern erhöhen.
Ireen: Ich finde, dass generell viele Dinge viel zu bürokratisch sind. Das frisst Ressourcen. Das trifft zum Beispiel Lehrer, die Spaß an ihrem Beruf haben und einfach gerne lehren. Wenn sie viel Bürokratie drum herum machen müssen, raubt das Energie, die sie sonst in die Weiterentwicklung von Unterricht stecken könnten.
Friederike: Mir ist Wissenschaft beziehungsweise Wissenschaftsjournalismus wichtig. Studien und wissenschaftliche Texte sind häufig in einer relativ schwer verständlichen fachlichen Sprache formuliert. Das müsste übersetzt werden, so dass alle Menschen es verstehen können und damit Halbwahrheiten oder Ähnliches gar nicht erst entstehen können.
Stehen große Veränderungen bei den Jugendlichen an?
Ein paar von euch machen gerade ihren Schulabschluss, andere sind schon im Berufsleben. Stehen bei euch in nächster Zeit große Veränderungen an?
Jean: Schwierige Frage.
Ireen: Jean, würdest du gerne in der ökologischen Landwirtschaft arbeiten?
Jean: Nein, das ist zu zeitaufwändig. Wir sind auf unserem Hof im Moment total unterbesetzt. Das sieht man ganz deutlich, weil wir teilweise bis zu 14 Stunden am Tag arbeiten müssen – an sieben Tagen in der Woche. Anders ist es in unserem Betrieb mit knapp 2500 Hektar Acker und 3000 Kühen einfach nicht möglich. Für Bio müsste man den Betrieb splitten, die Flächen aufteilen und in Technik investieren. Dafür reichen die Gelder auf keinen Fall. Es ist ja nicht so, dass wir nicht wollen würden, es ist nur einfach nicht möglich.
Ireen: Aber wenn jetzt zum Beispiel die EU da richtig ranklotzen würde. Glaubst du, dass es dann eine Zukunft hätte?
Jean: Es hätte Zukunft, aber es geht nicht so schnell von einem Jahr aufs nächste. Alles müsste umgebaut werden. Ich bin selbst kein Fan von Massentierhaltung. Bei uns hat immerhin jede Kuh ihren eigenen Platz im Stall, sie können sich bewegen. Aber sie grasen eben nicht auf der grünen Weide, wie man das in der Werbung immer sieht. Wir sind auf Produktion, auf Masse ausgelegt. Dafür machen wir zum Beispiel jetzt schon Gen-freie Milch und probieren, nur eigenes Futter zu verwenden. Also wir importieren kein Soja aus Amerika oder so. In welche Richtung es sich entwickelt, kann man noch nicht genau sagen.
Der Blick in die Zukunft
Nochmal zurück zu euren persönlichen Lebenswegen: Wo seht ihr euch in fünf Jahren?
Florian: Ich möchte erst mal mein Ausbildungsziel erreichen und dann nach Berlin. Krankenhaus ist nicht gleich Krankenhaus. Ich möchte dorthin, wo man auch noch etwas erleben kann. Zum Beispiel in die Traumatologie, also zu den Menschen, die schwere Unfälle hatten. Später möchte ich dann noch eine Fachweiterbildung machen zum Fachkrankenpfleger für Intensivmedizin oder Anästhesiologie.
Stanley: Ich hoffe, dass ich in fünf Jahren im mittleren Dienst bei der Berufsfeuerwehr in Hamburg bin. Qualifizierte Leute sind richtig gefragt. Irgendwann möchte ich mal Führungskraft sein.
Warum gerade Hamburg? Willst du unbedingt aus Brandenburg weg?
Stanley: Ich könnte auch hier anfangen. Aber ich bin gerne am Wasser und ich mochte die Stadt schon immer. Hamburg war immer das Non plus ultra für mich. Ich würde gerne ein Haus mit Grundstück am Stadtrand im Grünen haben. Nicht zu weit weg – nicht zu nah vom Stadtzentrum. Und die Berufsfeuerwehr in Hamburg ist eine der besten in ganz Deutschland. Die Hamburger fahren sehr viele Einsätze und sie sind ausbildungstechnisch sehr weit oben.
Friederike: Ich möchte in fünf Jahren mitten in meinem Pharmazie- Studium sein. Wo, weiß ich noch nicht genau. Am liebsten eher Richtung Norden, weil ich da ursprünglich herkomme.
Ireen: In fünf Jahren will ich eigentlich mit meinem Studium schon fertig sein. Ich bin relativ zielstrebig und habe nicht vor, 27 Semester zu studieren. Ein bisschen über die Regelstudienzeit ist ok, aber jetzt nicht zwei Jahre oder so. Das würde mir widersprechen. In fünf Jahren wäre ich theoretisch auch schon mit dem Master fertig.
Weißt du auch schon, wo du studieren möchtest?
Ireen: Ja, in Potsdam. Ich habe lange gesagt, dass ich nicht in Potsdam studieren will, weil es auf den ersten Blick klein und langweilig wirkt. Ich habe mich jetzt doch dazu entschieden, nicht aus Brandenburg weg zu gehen. Auch aus familiären Gründen, denn Zuhause zu leben ist gar nicht so blöd. Ich könnte mir nicht vorstellen, meine Eltern nur drei Mal im Jahr zu sehen. Man muss heute schon eine ordentliche Vorstellung davon haben, was man will.
Das Interview führten Hannah Rüdiger und Jonas Nayda